Sonntag, 4. Oktober 2015

Paula Hawkins "Girl on the Train"

Ich lehne den Kopf ans 
Zugfenster und lasse die
Häuser an mir vorbeiziehen
wie bei einer Kamerafahrt.
Ich sehe sie so, 
wie andere sie nicht sehen;
wahrscheinlich sehen nicht 
einmal ihre Bewohner sie 
aus dieser Perspektive.
Zweimal am Tag bieten sich 
mir für einen Moment Einblicke 
in fremde Leben.
Irgendwie hat der Anblick 
von Fremden, die daheim in 
Sicherheit sind, etwas Tröstliches.

Erscheinungsjahr: 2015
Verlag: blanvalet
Seiten: 446

Jeder, der regelmäßig mit Bus oder Bahn zur Arbeit fährt, kennt es: man starrt immer auf die gleichen Häuser, die gleichen Straßen,Wege und Geschäfte. So geht es auch Rachel, die jeden Tag mit dem Zug nach London pendelt. Ihre Lieblingsaussicht sind die Häuser in der Blenheim Road. Dort wohnen auch Jess und Jason. Rachel sieht sie fast jeden Tag, wie sie draußen auf ihrer Terrasse sitzen und Kaffee trinken, wie liebevoll Jason seine Frau umsorgt und für sie sind die beiden das perfekte Traumpaar. Natürlich weiß Rachel nicht ihre wirklichen Namen, sie hat sie nie persönlich kennen gelernt, aber sie erträumt sich gerne das absolut perfekte Leben des Paares. Es ist genau das, was sie verloren hat. Vor zwei Jahren wurde sie von ihrem Exmann für eine andere Frau verlassen, die beide zufällig nur wenige Häuser entfernt von Jess und Jason wohnen. Als Jess eines Tages spurlos verschwindet, prallen die Realität und Rachels Traumwelt aufeinander und sie muss erkennen, dass unter der Oberfläche der glücklich wirkenden Familie tiefe Abgründe warten können und nichts so sein muss, wie es zunächst schien.
Die Grundidee des Buches hat mich von Anfang an fasziniert, denn jeder ist schon einmal mit Bus oder Bahn gefahren und hat dabei eventuell sogar etwas beobachtet, was er nicht richtig einordnen konnte, weil er die Gesamtsituation nicht kannte. Rachel geht es nicht anders, doch sie interpretiert die Dinge, die sie sieht so, wie es ihr gefällt und wie es am Besten in ihre Traumvorstellungen des Paares passt. Andere Eventualitäten lässt sie einfach nicht zu und ihre Vorstellungen sind ihre Wahrheit. Was ich ebenfalls sehr interessant finde, sind die Charakterzeichnungen. Paula Hawkins präsentiert uns keine Helden des Alltags, sondern Menschen mit Problemen und Sorgen. Rachel ist Alkoholikerin, hat deswegen ihren Job verloren, trauert immer noch ihrem Exmann hinterher und die einzige Freude die ihr bleibt, sind ihre wunderschönen Lebensfantasien über fremde Menschen, die sie nicht mal kennt. Das klingt jetzt alles sehr bemitleidenswert und Rachel tut einem wirklich an vielen Stellen einfach nur Leid, aber es gibt auch die Momente, wo man am liebsten vor Scham im Boden versinken möchte, weil sie im Vollrausch mal wieder ihren Exmann angerufen und ihn angefleht hat, zu ihr zurück zu kommen. Das alles bessert sich allerdings, als Megan alias Jess verschwindet. Die Geschichte wird abwechselnd aus der Sicht von Rachel und Megan erzählt, wobei Megs Geschichte vor einem Jahr beginnt und wir uns zum Ende des Buches immer mehr dem Tag nähern, an dem sie verschwindet. Die Story hält dauerhaft eine gewisse Grundspannung, die zum Ende hin stark ansteigt. Sicherlich kann man als aufmerksamer Leser seine Schlüsse ziehen und eventuell auch den Mörder schon früher benennen, dennoch hat mich das Ende in seinem Ablauf sehr überrascht.

Fazit:
Eine wirklich faszinierende Grundidee, entsprungen aus dem Alltag vieler Menschen, eine durchgehend spannende Story mit unerwartetem Ende und der Erkenntnis, dass unter der Oberfläche verborgene Dinge brodeln können. 
Ein kleiner Kritikpunkt sind die zum Ende hin etwas übertrieben dargestellten männlichen Charaktere.

 

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